Aus dem Brief an Proba.
Augustinus (+ 430)
Unsere Sehnsucht übe sich im Gebet
Warum schweifen wir nach vielen Richtungen und fragen, worum wir bitten sollen, aus Furcht, wir könnten am Ende beten, wie es sich nicht gehört? Warum sagen wir nicht lieber mit dem Psalm: „Nur eines erbitte ich vom Herrn, danach verlangt mich: Im Haus des Herrn zu wohnen alle Tage meines Lebens, die Freundlichkeit des Herrn zu schauen und nachzusinnen in seinem Tempel“ (1)? Denn dort ist kein Kommen und Gehen der Tage, und nicht ist der Anfang des einen das Ende des andern; alle sind in gleicher Weise ohne Ende; denn dort hat das Leben mit all seinen Tagen selbst kein Ende. Damit wir dieses selige Leben erlangen, hat uns das wahre Leben selbst gelehrt: Wir sollen nicht mit vielen Worten beten, als ob wir um so eher erhört würden, je geschwätziger wir sind. Denn wir beten zu dem, von dem der Herr selber sagt, dass er weiß, was uns not tut, bevor wir ihn darum bitten (2). Die Frage, warum er das so macht, er, der weiß, was not tut, bevor wir ihn darum bitten, kann den Geist nur erregen, wenn wir meinen, es gehe unserm Herrn und Gott darum, von uns zu erfahren, was wir wollen. Aber er weiß es ja recht wohl. Vielmehr will er im Gebet unsere Sehnsucht üben, durch die wir die Gaben erlangen können, die er bereithält. Sie sind sehr groß, wir aber zu klein und eng, sie aufzunehmen. Darum heißt es: „Lasst euer Herz weit aufgehn. Beugt euch nicht mit Ungläubigen unter das gleich Joch!“ (3) Dieses ganz Große „hat kein Auge gesehen“, denn es ist keine Farbe; „kein Ohr hat es gehört“, denn es ist kein Laut; „keinem Menschen ist es in den Sinn gekommen“ (4), denn das Herz des Menschen muss sich zu ihm erheben. Wir sind um so besser imstande, dieses ganz Große aufzunehmen, je treuer wir daran glauben, je fester wir hoffen und je glühender wir verlangen. Wir beten eben im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe, fortwährend in einem andauernden Verlangen. Aber deswegen beten wir in gewissen Zwischenräumen von Stunden und Zeiten auch mit Worten, um uns durch die Zeichenhaftigkeit der Dinge selbst zu ermuntern, um uns selbst bewusst zu werden, wie große Fortschritte in der Sehnsucht wir machen, und um uns kräftiger anzutreiben, sie zu steigern. Denn je glühender die Liebe ist, desto wertvoller, was sie bewirkt. Darum bedeutet auch, was der Apostel sagt: „Betet ohne Unterlass!“ (5), nichts anderes als: Sehnt euch ohne Unterlass danach, das selige Leben, das nur das ewige ist, von dem zu erlangen, der es allein geben kann. 1 Ps 27,4. 2 Vgl. Mt 6,8. 3 2 Kor 6,13-14. 4 Vgl. 1 Kor 2,9. 5 1 Thess 5,17.